|
Tom
de Toys, 6.12.2002 / 01.Reportage fuer www.spokenwordberlin.net
VOM KLOSPRUCH ZUM STABREIM
UND ZURUECK
Eine sachliche Pop-Satire über den 3.Sexpoetry-Jahresslam
ich komme direkt von der massage. in der ubahn flimmern nachrichten
vom monitor und viel zu gestreßte menschen reden ueber viel
zu triviale rituale. doch dann die hypnotisch bunte slam-werbung,
laenger als sonst auf dem monitor, ich schließe beruhigt meine
augen und fluechte vor dem medialen
smog in einen trance-aehnlichen zustand tiefer innerer gelassenheit,
wo keine sprache
wohnt. sprachlosigkeit.
als ich gegen halb zehn
den club betrete, haengt draußen seit anbruch der
daemmerung ein fieser nieselregen in der eisig kalten luft. ob ueberhaupt
wer heute kommt? die tanzflaeche ist bereits bestuhlt und wird vom
dj mit chilligen beats bespielt. ich nutze die leere des raums,
um erstmal pinkeln zu gehen. maenner muessen naemlich neben der
buehne, was bei vollem saal schier
unerreichbar scheint, waehrend frauen bloß durch die eingangslounge
flanieren, als ob hier ein laufsteg sei. warum sich maenner manchmal
auf das
falsche oertchen verirren, hat bestimmt verschiedene gruende. und
warum das thema sex noch nicht ausgereizt ist, bestimmt auch. es
geht also um maenner und frauen. und deren sexualverhalten in diversen
konstellationen. laut homepage-presse sogar um liebe und beziehung.
ich bin gespannt und starre an die klowand, wo mir der weit und
breit einzige eddingspruch ins auge springt: "wer das liest
ist doof". aber der vorwurf prallt geschickt an mir ab, indem
ich ihn auf den bevorstehenden dichterwettstreit beziehe: ist der
vortragende oder der zuhoerende gemeint? wer ist hier doof? und
ich spuere eine ungeahnte textimmanente komplexitaet, ja vielleicht
sogar wirklich hohe literatur. denn die zeiten haben sich geaendert:
alles ist erlaubt, was gefaellt. der slam wird es beweisen.
zehn vor zehn, der moderator
trifft mit einem smarten laecheln ein, studenten
der mediengestaltung bauen mehrere kameras gut verteilt auf. generalprobe
fuer ihren abschlußfilm. ein ueberpuenktlicher autor fragt
mich, wer heute die liste macht. vermutlich der große, der
gleich da drueben an der kasse steht. um ganz genau zehn sind schon
alle fuenfzig stuehle besetzt und der buechertisch mit subkulturellem
hochglanz bestueckt. als der moderator ganz
in schwarz die buehne betritt, stehen weitere fuenfzig schaulustige
mit ziemlich spitzen ohren herum. der moderator: "super autoren!
fuer jeden fuenf
minuten sex! und das alle fuenf minuten aufs neue!" und eroeffnet
den abend
mit der "erogenen zone" von Gioconda Belli. danach der
stargast, ein junger
doktor der germanistik, dessen studenten sich unter das szene-volk
mischen.
gelacht wird gerne an brutalen stellen, es soll im laufe des abends
geschichten, gedichte und lieder geben, und klassisches versmaß
wird wieder einmal ganz bieder immer wieder und wieder hochkonjunktur
feiern - aber alles der reihe nach: von sechzehn dichtern wird bloß
der letzte vor seinem auftritt verschwinden, vier von fuenfzehn
buehnenwilligen sind eiblich,
das publikum fifty fifty und die fuenf juroren fast freiwillige.
die mutprobe
kann beginnen.
und sie beginnt mit dem
alibi-poem des buchhaendlers, der eigentlich nur auf
den naechsten slam aufmerksam machen moechte, waehrend der zweite
minnesaenger mit vorgetaeuschter peinlichkeit die gunst der geduldigen
meute sucht, denn er habe keinen titel fuer seinen fetischistischen
text vorzuweisen. so mancher entjungfert sich mit 1 alten und 1
neuen
gedicht, und bald schon wird gleich zweimal die hoechste punktzahl,
zehn, fuer "kollektiven orgasmus", an die autorin x-mal
wiederholter texte vergeben,
deren HELLE, SCHNELLE zeilen jedes LAND mit SAND an die WAND stellen.
danach behauptet ein poet, er staende zwar nur rum, aber sei trotzdem
innerlichnicht dumm. und muesse zudem am naechsten morgen eine leistungskursklausur
ueber deutsche lyrik bewaeltigen. ein juror wird wegen seiner schlechten
bewertung zur rede gestellt. er mag keinen porno-rap. es folgen
noch diverse "unerfuellte sehnsuechte", trotz englisch
leicht nachzuvollziehen, sie handeln von CAGES und STAGES, und nach
der pause geht es dann schlag auf schlag
im mittlerweile qualmgeschwaengerten ambiente: SAMEN, DAMEN, SPUREN
und HUREN des stargastes legen die meßlatte hoch, dann das
coming-out des garderoben-verwalters mit seinem aufgeklaerten traum
vom paradies, und
als dann der KOPF im "kalten kult" einer schraegen opernstimme
zum NACHTTOPF mutiert, lichten sich die hinteren reihen und eine
belustigte zuhoererin imitiert den gesang. bei STRONG, LONG, SONG,
FAIR und CARE wird wild applaudiert, STRUKTUREN, KULTUREN, MACHT
und SCHLACHT leiten zum ende ueber, ein zusaetzlicher dichter hat
sich in der pause entschieden, doch zu lesen, um sich fuer die beiden
freigetraenke zu qualifizieren und reimt nicht nur ROSA auf SOFA,
weil er einen PO SAH, sondern gleich noch LEBWOHL auf ALKOHOL und
FISCH und TISCH hinterher. ich haette ihm vorher meinen ueberfluessigen
bong schenken sollen, dann waere das nicht passiert.
aber dann werden auch
schon drei sieger mit ueber vierzig punkten
geehrt, mit bademodenposter, nikolausstiefel und echtem champus,
und daß die meisten beitraege
nicht sex thematisierten, macht gar nichts laut moderator, denn
der abend als solcher war wiedermal fuerchterlich sexy. es ist zehn
vor eins, die stuehle sind ruckzuck zusammen gestapelt, waehrend
vor der buehne noch ein paar poeten verschwoererisch kluengeln und
der dj tanzbares fuer uebrig gebliebene motivierte maedchen auflegt.
das publikum hat sich wie immer koestlich bis skeptisch amuesiert,
und als ich nach dem abschlußpinkeln zum ausgang torkel, lehnt
der schoenste aller kurzzeithelden mit einer niedlichen muse wild
knutschend an der wand der menschenleeren lounge. ein bild fuer
besoffene goetter! und fuer mich der unerwartete beweis, daß
sprachbegabung nicht nur ungelebtes kompensiert. die sinnliche authentizitaet
meldet sich hinter den kulissen in ihrer ganzen interaktiven expressivitaet
zurueck. ich nehme ein taxi, um moeglichst schnell zu schlafen.
|